Friedrich Nietzsche beendete sein Leben als Philosoph bekanntermassen mit einem spektakulären Zusammenbruch Anfang Januar 1889 in Turin. Diese finale Krise, durch die sich Nietzsche der Welt geistig für immer entzog, wurde oft und sehr gründlich auf ihre möglichen Ursachen hin untersucht, allerdings, ohne dass endgültige Klarheit gefunden oder eine abschliessende Meinung gebildet werden konnte. Der Anfang von Nietzsches Philosophenleben ist ebenfalls durch eine schwere, wenn auch weniger spektakuläre Lebenskrise markiert. Nietzsche überwand sie im Oktober 1865 mittels strengster Selbstzucht und vor allem dadurch, dass er zum begeisterten Jünger Schopenhauers wurde. Diese initiale Krise wurde, im Gegensatz zur finalen, bisher selbst von Nietzsche-Experten nur wenig beachtet und kaum je näher untersucht.
Nietzsches Leben und Schaffen wurde zwar so akribisch und kritisch erforscht wie das kaum eines anderen Philosophen; bei der Darstellung der entscheidenden Phase, in der der junge Nietzsche zum Philosophen wurde, sind seine zahlreichen Biographen aber weitgehend unkritisch dessen eigenen Angaben gefolgt. Nietzsches abrupte Wendung zur (Schopenhauer'schen) Philosophie Ende Oktober 1865 wird in der Regel noch immer auf den von ihm genannten "Zufall" zurückgeführt und als nicht näher aufklärungsbedürftig betrachtet.
Jetzt hat Bernd A. Laska ("Nietzsches initiale Krise", Germanic Notes and Reviews, vol. 33, n. 2, fall/Herbst 2002, pp. 109-133; Internet: www.lsr-projekt.de/nietzsche.html) diesen grossteils weiss gebliebenen Fleck der Nietzsche-Biographie näher untersucht und dabei einen überraschenden Fund gemacht: Eduard Mushacke, zu dem Nietzsche in der ersten Hälfte des Oktobers 1865 eine kurze, offenkundig sehr intensive, aber sofort wieder abgebrochene Beziehung hatte, war ein ehemaliger enger Freund Max Stirners ("Der Einzige und sein Eigentum", 1845).
Dieser Fund eröffnet die Möglichkeit, einen neuen, diesmal kritischen Blick auf diese Phase der Entwicklung Nietzsches zu werfen. Allerdings wird dieser Blick zunächst durch einige geistesgeschichtliche Sedimente blockiert. Sie behindern die ernsthafte Prüfung der Vermutung, dass in der – freilich nur postulierbaren – Begegnung des jungen Nietzsche mit Stirners "Einzigem" der entscheidende Grund für seine initiale Krise liegt, aus der der Philosoph Nietzsche hervorging.
Das massivste dieser Sedimente besteht darin, dass die Stirner-Nietzsche-Frage – die Frage, ob Nietzsche Stirners Buch gekannt und von ihm Denkimpulse bekommen hat – bereits in den Jahren um 1900 breit diskutiert und als letztlich unbedeutend ad acta gelegt wurde; dies vor allem deshalb, weil Stirner selbst als geistesgeschichtlich unbedeutend gewertet wurde. Dieses Sediment hat sich im Laufe eines Jahrhunderts, an dessen Ende Nietzsche allenthalben in hohem Ansehen steht und Stirner selbst in Deutschland kaum noch gekannt wird, erheblich verfestigt.
Deswegen arbeitet sich Laska retrochronologisch, sozusagen archäologisch, zum eigentlichen Thema vor. Er analysiert zunächst jüngere Darstellungen der Stirner-Nietzsche-Frage und stellt beachtliche Unkenntnis, Oberflächlichkeit und Fehlerhaftigkeit fest, selbst bei einem sonst so zuverlässigen Autor wie Curt Paul Janz.
Es folgt, als Grundierung zum Verständnis des folgenden, ein Exkurs zur wenig bekannten "klandestinen Stirner-Rezeption", die kurz nach Erscheinen von Stirners "Einzigem" mit Marx begann (der seinen vehementen Anti-Stirner nicht veröffentlichte) und sich bis in unsere Zeit (z.B. Habermas) fortsetzte. Nicht wenige bekannte Denker haben, meist an entlegener Stelle, preisgegeben, dass Stirner sie in jungen Jahren stark beeindruckt, ja erschüttert, hat; gleichwohl haben sie eine argumentative Auseinandersetzung mit ihm vermieden. Damit will Laska die Plausibilität seiner These stärken, die Nietzsche in diese Gruppe einreiht, obwohl – oder weil, denn (verwischte) Spuren Stirners meinte man bei ihm oft gefunden zu haben – es bei ihm weder im Werk noch in Briefen oder sonst überlieferten Zeugnissen eindeutige Belege dafür gibt, dass er von Stirner auch nur wusste.
Nachdem Stirners "Einziger" (1845) für vier Jahrzehnte quasi verschollen gewesen war, lag Ende der 1880er Jahre die Stirner-Nietzsche-Frage in der Luft. Öffentlich aufgeworfen wurde sie durch Nietzsches philosophischen Intimfeind Eduard von Hartmann, aber merkwürdigerweise erst, als Nietzsche sich nicht mehr zu ihr äußern konnte. Nietzsches engere Freunde, Overbeck, Köselitz u.a., waren konsterniert, denn Nietzsche hatte ihnen gegenüber den Namen Stirner nie erwähnt; allerdings behauptete Baumgartner, ein früherer Schüler Nietzsches, dieser habe ihm den "Einzigen" zur Lektüre empfohlen. Elisabeth Förster-Nietzsche meinte gar, "beweisen" zu können, dass Nietzsche Stirners Buch nicht kannte. Laska gibt einen Abriss der damaligen Aufgeregtheiten um die Stirner-Nietzsche-Frage, die sich jedoch in dem Masse legten, in dem Nietzsche an Ruhm und Prestige gewann. Schliesslich liess man die ungeklärte Frage auf sich beruhen.
Nach diesem vorbereitenden Überblick zur bisherigen Behandlung der Stirner-Nietzsche-Frage kommt Laska zum eigentlichen Thema des Artikels, der Untersuchung der Biographie Nietzsches im Oktober 1865, die er in die Kapitel "Berliner Euphorie" (bei Stirner-Freund Mushacke) und "Leipziger Depression" (mit Flucht zu Schopenhauer) unterteilt. Kernstück ist die Entdeckung, dass Eduard Mushacke, der Vater von Nietzsches Studienfreund Hermann, nicht nur ein biederer Schulmeister, sondern einst – in jener kurzen, 1848/49 beendeten Periode eines aufklärerischen Aufbruchs nach Hegels Tod, in jener nur zwanzig Jahre zurückliegenden "geistesregen Zeit", in der der junge Nietzsche gern gelebt hätte – ein enger Freund des 1856 verstorbenen Max Stirner gewesen ist. Obwohl über die zwei Wochen, die Nietzsche bei Mushacke verbrachte, wenig bekannt wurde, wäre es unplausibel, anzunehmen, Nietzsche, der dieser Bekanntschaft entgegenfiebert hatte, hätte dort nicht von Stirner erfahren, und – die Kenntnis der klandestinen Stirner-Rezeptionen vorausgesetzt – unsensibel, dass dieses Erlebnis den jungen Nietzsche nicht in eine Krise gestürzt hätte. Obwohl nichts zu beweisen ist – oder gerade deshalb – wirkt Laskas Rekonstruktion dieser entscheidenden Phase der Entwicklung Nietzsches höchst plausibel. Was aus der Annahme dieser "initialen Krise" für die Interpretation der weiteren Entwicklung Nietzsches bis hin zu seiner "finalen Krise" folgt, lässt Laska natürlich hier offen.
(war am 30. Juni 2003 "zuletzt geändert; vermutlich der Text, den ich an "Information Philosophie" geschickt habe. – 24.1.2011 BAL)