2. Februar 1994
Sehr geehrter Herr Erdély,
vielleicht erinnern Sie sich noch unseres kurzen Briefwechsels (18.6.92 / 23.2.93), den ich begonnen hatte, weil mir Ihr "Ceterum censeo[, super-ego esse delendam]"[*] als Oase in der Wüste der einschlägigen Literatur erschien. Ich bin zudem der Meinung, daß das Programm "Abbau bzw. Entfernung des Über-Ich" nervus rerum der neuzeitlichen Geistesgeschichte war und ist, wenngleich es stets sehr verborgen war und dann, wenn es einmal einigermaßen deutlich artikuliert wurde (bei La Mettrie, bei Stirner, bei Reich), gerade von den "erfolgreichen" Aufklärern erbittert bekämpft wurde (z.B. Freud contra Reich) – allerdings nicht argumentativ, sondern "politisch" und geheimdiplomatisch.
Das Publikum, das an derartigen "Enthüllungen" interessiert sein könnte, ist natürlich darauf überhaupt nicht gefaßt, weshalb die Präparation und Präsentation des Materials ziemliche Schwierigkeiten bereitet. Für den "Fall Stirner" habe ich kürzlich eine Art Hinführung versucht, ohne freilich auf Inhaltliches eingehen zu können [Der schwierige Stirner]. Ich erlaube mir, Sie Ihnen beizulegen, zusammen mit einer kopierten Stelle aus meiner Reich-Monographie, in der ich – allerdings auch nur in Form eines Hinweises – auf die innere Verwandtschaft Stirner-Reich eingehe.
Im übrigen bin ich gespannt auf Ihr angekündigtes zweites Buch. Wird es bald erscheinen?
Mit besten Grüßen
Ihr
[* Zoltán E. Erdély: Wie sag ich’s meiner Mutter? Das enteignete Selbst, suhrkamp, 1989]