(…) Das evidente Scheitern der Aufklärung, ja, woran liegt das? Ich habe es mir an ihren Triumphen (Pyrrhussiege, keine inhärente "Dialektik") (Rousseau über La Mettrie; Marx und Nietzsche über Stirner; Freud über Reich) grosso modo erklärlich gemacht. Schwer erklärlich ist mir nach wie vor das Motiv dieses dreimaligen Ausweichens vor derselben Idee, sobald sie artikuliert wurde.
(…)
(…) Ich betrachte es aber als biographischen Glücksfall, dass ich In den späten 60er Jahren den Schriften Reichs begegnete und ihre ambivalente Rezeption bei der Linken, zu der ich mich damals rechnete, "hautnah" mitbekam. Diese Zeit erlebte ich ganz anders als das, was in den vielen Legenden um die 68er, die schon bald in Umlauf kamen, kursiert. Für mich war Reich "a splendid child of Europe's love of rationality, perhaps her last", wie es Leo Raditsa ausdrückte. Im Rahmen meines "LSR-Projekts" ist Reich das auch heute noch. Dabei steht – ungeachtet aller Fragen der "Wissenschaftlichkeit" – Reichs Konflikt mit Freud im Zentrum, also weder Therapeutisches noch "Orgonotisches".
Soviel stichwortartig. Ich weiss nicht, ob und inwieweit dies für Sie verständlich ist, sein kann.
Noch problematischer wäre ein Versuch, zu erklären, was ich genau mit dem "dreimaligen Ausweichen vor derselben Idee!" meine, über die Stichworte bzw. Namen hinaus, die ich (…) nannte. Betr. "Ausweichen": Zu Stirner habe ich eine "Re(pulsions- und De) zeptionsgeschichte" ("Ein dauerhafter Dissident") geschrieben, und eine Reihe von Artikeln (z.B. über '"Nietzsches initiale Krise"), zu La Mettrie und Reich bisher nur Bruchstücke einer solchen. Zu "derselben Idee" schreibe ich u.a. in meinen drei Aufsätzen "Die Negation des irrationalen Über-Ichs bei..." (die allerdings aus verschiedenen Anlässen entstanden und ihre einheitliche Überschrift erst später erhielten).
(…)
Dass Nietzsche möglicherweise in La Mettrie den Stirner der Aufklärung des 18. Jh. erspürt hat (horror nihili), liegt mir als Annahme nicht fern. Da überrascht dann auch sein Schweigen über ihn nicht.
Er konnte ja bei [Friedrich Albert] Lange sehen, dass dieser La Mettrie zwar rehabilitieren wollte, aber gerade seine Ethik – das Kernstück seiner Lehre – entrüstet ablehnte, zudem folgerichtig die Verfemung La Mettries banalisierte.
Das konnte Nietzsches Spürsinn genauso verdächtig erschienen sein wie Langes zwei drei Sätze, mit denen er sich aus einer Stirner-Diskussion stahl.
So wie Nietzsche, aus meiner Sicht, vor dem "Nihilismus" Stirners zu Schopenhauer floh, so war damals unter den Figuren der frz. Aufklärung Rousseau sein Favorit, der selbst durch den "Nihilismus" La Mettries erweckt und motiviert worden war (und ihn übrigens auch nie nannte). "Gegen Rousseau" (Morgenröthe, Nr. 163) wandte sich Nietzsche erst Anfang der 80er Jahre, bemerkenswerterweise, denn zu jener Zeit – in der übrigens auch Stirners vergessenes Buch eine Zweitauflage erfuhr – holte das "Nihilismus"-Problem Nietzsche wieder ein und liess ihn bis zu seiner "finalen Krise" nicht mehr los. (…)