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[Die Fourier-Sache] habe ich gern gelesen, weil gut geschrieben; habe Einiges erfahren, was mir nicht oder nicht mehr präsent war. Ich habe gleich mal im Regal nachgesehen und fand: Den WAT-Band; einen Nachdruck von Victor Considerant: Fouriers System der sozialen Reform. 1906 (übers. nach der 3. Aufl. 1844). Einl. Georg Adler
Beides mit nur wenigen Lesespuren - aus denen ich die Gründe sehe, die mich vor x Jahren bewogen, mich nicht intensiver mit Fourier zu befassen. Die sind kaum mit wenigen Sätzen so zu benennen, dass es nicht zu Missverständnissen kommt. In grösster Kürze: F. lehnt einen "Neuen Menschen" ab, will nur, dass der "Alte Adam" sein Leben anders/besser/lebens- und lustbejahend organisiert. Das ist in sich widersprüchlich. Der "Alte Adam" hat hinlänglich bewiesen, dass er nicht anders kann, wenn auch der heutige Vulgärhedonismus der fun society dies krampfhaft zu verleugnen sucht. Kannte Fourier eigentlich La Boeties "servitude volontaire" ? (…) Dann fand ich hier im Regal noch Bruckner/Finkielkraut: Die neue Liebesunordnung, ein Anti -Reich von 1977, worin aber, soweit ich flüchtig sehe, kein ausdrücklicher Bezug auf Fourier genommen wird.
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Ich muss mich zunächst wohl entschuldigen für eine missverständliche Bemerkung in meinem letzten Brief. Zwar hatte ich über Strecken (…) den Eindruck, Sie sähen Sade für meinen Geschmack etwas zu positiv, ja sogar mit Begeisterung (was dann am Ende revidiert wurde), aber ich habe nicht einen Moment Sie gemeint als jemanden, der um La Mettrie einen Bogen macht, vielmehr eine gewisse Szene von Intellektuellen und die drei Richtungen der aufklärungsfeindlichen und/oder -defaitistischen Aufklärungskritik, die ich im Vorwort zu LM-Band 2, S.xviii,ff nenne. Was ich an jenen Anderen kritisiere, die La Mettrie - bloss! - "zu seinem Recht verhelfen" wollen, sehen Sie z.B. in meinem Walser-Aufsatz an den Seitenhieben auf den guten alten Duisburger F.A. Lange und die smarte Zürcher Jungprofessorin U.P. Jauch.
Das berührt auch unsere Kurzdiskussion, ob ich LM ins "grosse Pantheon" hineinboxen oder -mogeln will bzw. ob man um "Deutungshoheit" kämpfen kann/soll/muss und letztlich die Grundintentionen meines "LSR-Projektes", auch den Sinn von "para"-philosophisch...
Darauf kamen Sie gleich anschliessend zu sprechen. Sie fragen, warum ich die Versäumnisse der bisherigen Stirner-Rezeptionen nur in zahlreichen Texten immer wieder beklage, anprangere, aber selbst nicht daran gehe, die aus meiner Sicht bisher ausgebliebene "richtige" Würdigung Stirners vorzulegen. Sie vermuten dann eine verborgene Raffinesse meiner Publikationsstrategie.
Diese Fragen werden mir oft (naja, gelegentlich ;-) ) gestellt, auch von Freunden. Es ist kaum möglich, sie zu beantworten, wenn nicht - hmmm, der Frager die Antwort im Grunde schon weiss: aus dem, was vorliegt. Klingt etwas raunend, aber vielleicht verstehen, erahnen, erraten Sie so am besten, was das heisst.
Auf den Fall Stirner (und Ihren Brief) bezogen, heisst das zunächst, dass ich gar nichts beklage, gar anprangere und keine wirklichen Versäumnisse sehe. Und ich will ihm mitnichten zu "seinem Recht" verhelfen. Ich prangere nicht an, sondern exponiere schlicht; mache klar, dass es nicht um Versäumnisse geht, sondern dass hier ganz ausserordentliche, von den Legionen professioneller Philosophen bisher nicht diskutierte ideengeschichtliche Vorgänge zu studieren wären (kurz: die stets klandestin ausgetragenen inneraufklärerischen Kämpfe und Siege von Voltaire/Diderot & Co vs. La Mettrie im 18.Jh., von Marx und Nietzsche vs. Stirner im 19.Jh., von Freud et al. vs. Reich im 20.Jh.). Meine Absicht ist, auch in den Fällen La Mettrie und Reich (gewissermassen "synergetisch"), weitaus ambitionierter als eine "Wiedergutmachung" oder Rücknahme der "Ausgrenzung", was ich an verschiedenen Stellen durchaus zum Ausdruck bringe: die Mitte 20.Jh. sang- und klanglos verabschiedete "Aufklärung" wieder zu beleben. Genau genommen aber gar nicht nur das, sondern zu zeigen, dass und warum der Sieg, den die Aufklärung im Westen davontrug, ein vermeintlicher, ein eingebildeter Sieg war (…). Also eigentlich nicht Wiederbelebung, sondern Neugeburt... Zugleich weiss ich natürlich, dass "die Welt" nicht auf die "Enthüllungen" und Ideen eines philosophischen Dilettanten wartet, und auch, dass jene "Versäumnisse" eben gar keine waren (vielleicht sind Sie schon auf meine Begriffe "Sekundär-" und "Tertiärverdrängung" gestossen). Ein Einzelner kann nun einmal, wie Kierkegaard gesagt hat, die Welt nicht retten, sondern ihr nur sagen, woran sie zugrunde gehen wird. Deshalb muss meine Ambition realistischerweise schwinden: statt Neugeburt der Aufklärung nur noch - Selbstbehauptung, in einem, wie Sie schrieben, "korrupten, zynischen, lebensfeindlichen System" (zu dem, leider und ohne wirkliche Not, auch "die Philosophie" gehört, die fast nur noch eine "akademische" ist).
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