Soziale Amnesie
(Hans Bertram: Der aufhaltsame Aufstieg zur Moral, Heft 1/80)
Das Kohlberg-Modell von Hans Bertram, gegenüber früheren Modellen über moralisches Urteilen und Handeln als Fortschritt vorgestellt, zeigt doch eigentlich nur einmal mehr, wie erschreckend unverändert im Grunde der Stand der Diskussion dieses Themas seit ihrem Beginn vor einigen Jahrtausenden geblieben ist.
Der Mensch, der Stufe 6, wie auch jener, der Stufe 5 „im allgemeinen wenig verwirklicht", orientiert sein moralisches Urteil an – selbstgewählten ethischen Universalprinzipien. Das ist doch wohl allenfalls seichte Theologie, vielleicht auch noch als Philosophie zu verkaufen! Kohlberg jedoch ist ein in seiner Zunft vielbeachteter Psychologe. Hier liegt vielleicht auch eine mögliche Antwort auf die im gleichen Heft thematisierte Frage: Kann Psychologie jemals eine Naturwissenschaft werden? Sicherlich solange nicht, wie sie derart mit Metaphysik durchsetzt ist und ihren Gegenstand nicht konsequent als Bestandteil der Natur auffaßt. Der Anfang, den der frühe Freud und Wilhelm Reich – beide verstanden sich zu Recht als Naturwissenschaftler – gemacht haben, erscheint heutigen Psychologen allenfalls von historischem Interesse. Die Betriebsamkeit dieser Leute und ihr gigantischer Output an Gedrucktem scheinen mir wissenschaftsgeschichtlich hauptsächlich die Funktion zu haben, bereits erarbeitete Erkenntnis zu verschütten, sie der „sozialen Amnesie" (Russell Jacoby, siehe PSYCHOLOGIE HEU-TE, 2/79) anheimfallen zu lassen.
BERND A. LASKA Nürnberg
[LSR Maschinenraum: Nicht abgedruckt wurde der Schlußabsatz von Laskas Leserbrief:]
Beim Lesen des Artikels über Kohlbergs Modell, das angeblich geeignet ist, "alle Theorien moralischen Handelns ... zu integrieren", bekam ich Schwierigkeiten bei einigen konkreten Anwendungsversuchen. Ich wußte z.B. nicht recht, in welche Kategorie ich jene Leute einordnen könnte, die sich so oft in der Geschichte als verantwortliche Kulturträger vor der schwierigen moralischen Entscheidung sahen, wie mit gewissen Untermenschen – möglichst prophylaktisch – zu verfahren sei, die die Kultur mit Barbarei bedroht haben. Einige erlauchte Namen und angesehene Organisationen sind mir da eingefallen.
[LSR Maschinenraum: Die besagten „sechs Stufen“ lauten:
Stufe 1: Orientierung an Bestrafung und Gehorsam
Stufe 2: instrumentell-relativistische Orientierung (eigenes Interesse, Bedürfnisbefriedigung)
Stufe 3: Orientierung an personengebundener Zustimmung (Konformität)
Stufe 4: Orientierung an Recht und Ordnung
Stufe 5: legalistische oder Sozialvertrags-Orientierung
Stufe 6: Orientierung an allgemeinen ethischen Prinzipien
Dazu notierte sich Laska am Rande des Artikels: „auf welcher Stufe befinden sich ‚Kulturträger‘ (Pius XII, Heidegger, C.G. Jung), die alles tun, um die ‚Kultur‘ gegen die ‚Barbarei‘ zu schützen? Meist = 6“]