SEXUALMEDIZIN
Leserbriefredaktion
12.8.1983
Sehr geehrte Damen und Herren,
leider habe ich erst kürzlich das Juni-Heft der "Sexualmedizin" gelesen und komme deshalb mit meinem Leserbrief vielleicht etwas spät. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie ihn trotzdem noch abdrucken würden, damit der Leser sich an den Inhalt des kommentierten Artikels erinnert, habe ich dessen Hauptthesen im ersten Absatz kurz zusammengefaßt.
Mit freundlichen Grüßen,
zum Leitartikel des Juni-Heftes "50 Jahre danach"
Im Leitartikel des Juni-Heftes meint Volkmar Sigusch, die europäische Sexualwissenschaft sei 1933 vom Faschismus vernichtet worden, habe sich von diesem Schlage bis heute nicht erholt und werde es auch in Zukunft nicht können. Der Artikel ist von verwirrender Inkonsequenz, weil der Verfasser (1) nicht sagt, was er als charakteristisch für jene einstige "europäische" Sexualwissenschaft ansieht; (2) seine implizite Anklage der heutigen Sexualwissenschaft – er vermeidet, sie "angelsächsische" zu nennen – nicht begründet; (3) dann "unsere alten Sexologen" mit Ausnahme von Freud und Reich als "konforme" diffamiert, deren eugenische Programme im NS-Staat "blutig wahr" geworden seien.
Was Sigusch empört zitierend berichtet, stimmt zweifellos: Einig waren sich die meisten damaligen "europäischen" Sexualforscher gerade in jenem Punkt, den Sigusch ihnen als "menschenfeindlich" ankreidet, in der Forderung nach eugenischen Maßnahmen zur Förderung des sozialen Fortschritts. (Selbst in einer Publikation der SEXPOL Wilhelm Reichs, den Sigusch als eine der wenigen Ausnahmen ansieht, die nicht "auf der Schattenseite der Aufklärung...operierten", kann man 1935 in einem Kommentar zum NS-"Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" nach einer sachlich-inhaltlichen Kritik lesen: "Dennoch steckt in dem Gesetz eine Tendenz, die wir als Sozialisten bejahen müssen: Es ist die Tendenz, wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt zur Regelung der Fortpflanzung heranzuziehen."*) Uneinig jedoch waren sich die Sexologen der Zeit vor 1933 über fast alles andere: über Fachliches, z.B. über die Beurteilung dessen, was man heute "sexuelle Deviationen" nennt, und über Politisches, z.B. über die Taktik zur Durchsetzung ihrer Forderungen, ob revolutionär, revisionistisch oder reformistisch.
An der Auflösung der Weltliga für Sexualreform 1935 hatten denn auch die von Sigusch beschworenen "faschistischen Horden"” weitaus weniger Anteil als diese internen Streitigkeiten, die zu bitteren Feindschaften geführt hatten. Zwar wurde das "Europäische", die aufklärerische Konzeption eines via Wissenschaft hervorzubringenden "Neuen Menschen", durch den Nationalsozialismus verheerend kompromittiert, doch hätte es auch sonst wohl kaum Eingang finden können in die Welt der angelsächsächen Siegermächte, von der der sowjetischen ganz zu Schweigen.
Sigusch macht es sich m.E. zu leicht, wenn er meint, mit dem Universalpopanz "Faschismus" oder gar "Hitler" ein Ereignis adäquat einzuordnen, das wohl als ein Aspekt des seit Mitte des 19.Jahrhunderts zu beobachtenden gegenaufklärerischen Prozesses eher zu erfassen ist. Die hilflose Phrase von der "Vermittlung von Psychoanalyse und Marxismus” deutet auf das theoretische Instrumentarium des Autors, an dessen Brauchbarkeit zu glauben ihm immer schwerer zu werden scheint.
* Karl Teschitz: Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutschland. Politisch-Psychologische Schriftenreihe der Sexpol Nr.3. Kopenhagen 1935. p.44