[Robert Nozick] Lektüren 1981 (nach alten handschriftlichen Aufzeichnungen)
BERND A. LASKA, aus dem LSR-Archiv
19.01.81:
Robert Nozick (1974): Anarchie, Staat, Utopia. München 1976 (Moderne Verlagsgesellschaft)
Dahrendorf (in DIE ZEIT 9.1.81): Nozick vertritt "brutalen Individualismus".
Einführung von F.A. Hayek:
ein "grosses und tiefschürfendes Werk über politische Philosophie", das wie kein anderes in diesem Jahrhundert "so schnell die grösste Aufmerksamkeit in weiten Kreisen erregt" hat. Es richte sich hauptsächlich gegen John Rawls 'Eine Theorie der Gerechtigkeit'. Beide sind junge Harvard-Professoren. Es sei eine "Arbeit eines geschulten modernen Philosophen, die im grossen Stil die Grundprobleme aller politischen Philosophie neu durchdenkt und sozusagen die Imprimatur des Führers der Harvarder Logik-Schule trägt." – Nozicks Diss. (Princeton 1963): "The Normative Theory of Individual Choice".
Namenverzeichnis fehlt. Literaturverzeichnis enthält u.a. (nur engl.!):
Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation
Böhm-Bawerk, Eugen von: Karl Marx and the Close of his System + Capital and Interest
Buber, Martin: Pfade in Utopia
Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit
Goffman, Erving: Relations in Public
Hayek, Friedrich August: The Constitution of Liberty
Hempel, Carl G.
Kant, Immanuel: Groundwork of the Metaphysics of Morals
Leary, Timothy: Politik der Ekstase
Locke, John: Two Treatises on Government
Mandel, Ernest
Marcuse, Herbert: Repressive Toleranz
Marx, Karl: Kapital I
Mises, Ludwig von
Nelson, Leonard: System of Ethics
Oppenheimer, Franz
Popper, Karl R.: Objective Knowledge
Proudhon
Rand, Ayn: Atlas Shrugged + The Virtue of Selfishness + Capitalism – The Unknown Ideal
Rawls, John
Rousseau, J.J.
Schoeck, H.: Neid
Spencer, Herbert
Trotsky, Leon
Tucker, Benjamin
Weber, Max
---> Stirner, Nietzsche, Freud, Horkheimer etc. fehlen
Nozick spielt alle möglichen Beispiele und Konstruktionen durch; möglicherweise sehr "logisch" in der Gesamtstruktur der Theorie. Sein Ausgangspunkt aber scheint mir total falsch: er geht von einer pluralistischen Vorstellung aus, nach der a) jeder mit "freiem Willen" getroffene Entscheidungen ausführen will, b) die Entscheidungen eines jeden prinzipiell zu respektieren sind, d.h. gleichwertig sind. Das ist übrigens auch in Gesells Theorie und Utopie so! Stirner hingegen hat Ansätze zur Überwindung dieses Standpunktes (--> Erziehungstheorie). –
S.198: Nozick wirft Rawls ein "Herunterspielen der Autonomie und primären Verantwortlichkeit eines Menschen für seine Handlungen" vor und findet das "bedenklich für eine Theorie, die (einschliesslich einer Theorie des Guten) sich so stark auf die Entscheidungen von Menschen stützt." Damit hat er wohl den Kern der Rawls'schen Theorie (die ich nicht kenne) getroffen. Er selbst allerdings liegt auch falsch, nur konsequenter, da sein "autonomer Mensch" nicht existiert.
Das ganze Buch (auch wohl das von Rawls) kreist zudem nur um "Gerechtigkeit " bei der Güterverteilung, ein Problem, das in der "Überflussgesellschaft" doch nicht mehr im Vordergrund steht. Eine Bedürfnistheorie allerdings, die mehr sagt, dass alle das Maximale für sich haben wollen, können beide aufgrund ihres Menschenbildes (R: versteckt weinerlich – autonom; N: konsequent – autonom) nicht formulieren. (s. später).
S.153, Fn: "Unsere Argumentation setzt nirgends weitergehende Rahmeninstitutionen voraus als die des minimalen Nachtwächterstaates, der sich auf den Schutz der Menschen vor Mord, Überfall, Diebstahl usw. beschränkt."
S.154: Sonderwünsche in einer Gesellschaft, in der die Grundbedürfnisse befriedigt sind, können durch Sonderleistungen erfüllt werden. "Aus welchem Grund könnte man die daraus entstehenden Ungleichheiten verbieten?"
S.159, Fn: "Es hängt nichts davon ab, dass ich hier und anderswo unscharf von Bedürfnissen spreche, da ich jedesmal das damit verbundene Gerechtigkeitskriterium ablehne. Hängt aber doch etwas von dem Begriff ab, so sollte man ihn wohl sorgfältiger untersuchen." (!!! -- Was ist das für eine politische Philosophie, die das als unwesentlich in einer Fussnote erwähnt?)
Rawls' sog. Unterschiedsprinzip lässt Ungleichheit in einer Gesellschaft in beliebigem Ausmass zu, solange es für die am schlechtesten gestellte Gruppe dadurch noch einen Vorteil gegenüber dem Zustand der Gleichheit gibt.
S.215: Mit "brutalem Egoismus" bezeichnet Dahrendorf (s.o.) wohl das, was Nozick auf dieser Seite zum Thema "armer/reicher Kranker" sagt – dabei ist es nur eine nüchterne Erörterung des Verhältnisses.
S.221: zu Nozicks Menschenbild:
er zitiert Trotzki, der am Ende seines Buches "Literatur und Revolution" etwas über den künftigen Menschen schreibt: "Durchschnittsmensch --> Aristoteles, Goethe, Marx... Darüber werden neue Gipfel aufragen."
N. leitet daraus ab, dieser Mensch hätte dann Selbstwertprobleme, da er sich bloss auf der Höhe von A., G., M. befände.
a) unlogisch, es sei denn, er meint, auch der heutige Mensch, alle Menschen immer, hätten bei Anwesenheit höher Stehender Selbstwertprobleme;
b) Trotzkis Bild übereifrig als "egalitär" eingeschätzt (?)
S.223: Selbstachtung stützt sich auf unterscheidende Merkmale (Bsp. früher: wer lesen konnte, fühlte sich und wurde als wer angesehen; heute bedeutet das nichts mehr). Meine Frage: warum dann "keep up with the Jones'" / nicht übertrumpfen wollen / Konformismus ?
S.223: Selbstwert wird aus gesellschaftlichem Urteil gezogen. Nach Nivellierung bestimmter Werte: "es kann sehr gut sein, dass andere Dimensionen mit der gleichen Wirkung (auf andere Menschen) an ihre Stelle treten... etwa ästhetisches Feingefühl, Schönheit, Intelligenz, athletische Fähigkeiten, körperliche Grazie, Stärke des Mitgefühls mit anderen Menschen, Güte des Orgasmus (!!!)..." (Fn: Verweis auch Schoeck).
N. nimmt den Wertrelativismus soz. für absolut, ahnt nichts vom Stirner'schen Einzigen, ist total am empirischen Menschen orientiert, dem er als Danaergeschenk "Autonomie" bescheinigt (oder --> "als ob")
S.232f: diskutiert die interessante Frage, warum heute Gewerkschaften, Arbeiter und progressive Intellektuelle ihr Geld nicht in Betrieben anlegen, in denen die Arbeit nach ihren Vorstellungen ("menschlich") organisiert ist. (Kapitel "Die Marx'sche Ausbeutung")
S.271: Kapitel 10: "Ein System für die Utopie". N.'s Minimalstaat ("kein darüber hinausgehender lässt sich rechtfertigen") (Anm.: s.S.38 -> lib. Nachtwächterstaat [Gewaltmonopol, schützt Zahlende] / priv. Schutzvereinigungen [kein Gewaltmonopol / Rache etc.]) ist, so meint er selbst, blass; begeistert niemanden. Er sei aber eben keine Utopie --> Frage nach der besten aller möglichen Welten: "Die Welt, in der ich leben möchte, dürfte nicht genau dieselbe sein, in der du leben möchtest" usw.
N. kommt aber auch nicht über den Wertrelativismus hinaus, bemüht eine Liste "verschiedener" Menschen (Wittgenstein, Liz Taylor etc.), um seine Position klar zu machen (S.282). S.283: "Utopia wird aus Utopien bestehen."